Buchtipps: Helden mit Handicap

„Normal ist scheiße“, sagt eine Protagonistin aus unseren Buchtipps zu einem behinderten Mädchen, das sich nichts mehr wünscht als so zu sein wie ihre Klassenkameraden. Doch weder sie noch die anderen Titelhelden unserer Neuvorstellungen können das – oder dürfen es.

Mit Worten kann ich fliegen
Seit Melody zwei Jahre alt ist, haben alle ihre Erinnerungen Worte. Schnell wurde ihr die Macht der Wörter bewusst, mit denen sie alles beschreiben kann. Sie liebt Musik, die zu Farben in ihrem Kopf wird. Das Mädchen ist hochbegabt und hat ein fotografisches Gedächtnis. Doch davon weiß niemand etwas, denn Melody ist schwerstbehindert. Sie kann nicht sprechen, hat keinen Gleichgewichtssinn, keine Kontrolle über ihre Körperteile mit Ausnahme des Daumens. Die Diagnose lautet spastische Tetraplegie, auch bekannt als Zerebralparese. Während die meisten Melody kaum wahrnehmen und davon ausgehen, dass sie auch geistig stark zurückgeblieben ist, gibt es Menschen, für die Melody etwas ganz Besonderes ist und die spüren, dass weitaus mehr in ihr steckt als es erscheint: Ihre Eltern, die Nachbarin Mrs. V und Catherine, Melodys Schulbegleitung.
Als Melody fast elf Jahre alt ist, findet sie einen Weg, sich ihrer Außenwelt mitzuteilen. Damit bekommt Melody einen ganz neuen Zugang zu einer Welt, an der sie bislang vornehmlich als Beobachterin teilhatte. Doch schon bald muss sie feststellen, dass dadurch neue Probleme entstehen, die nicht durch Worte zu lösen sind.

Die Geschichte, erzählt aus der Perspektive von Melody, ist berührend, jedoch frei von Gefühlsduselei. Genauso irritiert und hilflos wie Meldoys Mitmenschen fühlt man sich als Leser, wenn Melody einen ihrer Anfälle bekommt. Und doch hofft man mit ihr, dass sie ihr Ziel erreichen wird und ist bis zum Schluss gespannt, ob und wie es ihr gelingen wird.

„Mit Worten kann ich fliegen“ von Sharon M. Draper ist im Verlag Ueberreuter erschienen, für Jugendliche ab 12 Jahren geeignet und kostet 14,95 Euro. ISBN 978-3-7641-7010-3

Der beste Tag meines Lebens
Colin Fischer ist 14 Jahre alt und neu an der Highschool. Sich dort aufzuhalten ist für ihn wie in einem Meer voller Raubfische zu schwimmen. Er mag es nicht, angefasst zu werden. Der Junge kann den Lärm nicht ertragen, ekelt sich vor den Gerüchen, versteht seine Mitschüler nicht. Colin ist ein Asperger-Autist, der versucht, mit Hilfe seines Notizbuches den Alltag zu meistern. Penibel schreibt er dort alle seine Beobachtungen nieder, skizziert die Gesichtsausdrücke seiner Mitschüler, notiert Begebenheiten, um später alles zu analysieren und zu verstehen. Eine glasklare Logik, feste Regeln und eine weit über das Normalmaß hinausgehende Beobachtungsgabe einerseits und andererseits ein völliger Mangel an Empathie und Gefühlsäußerungen machen es der Umwelt schwer, mit Colin umzugehen. Konflikte an der Schule sind vorprogrammiert und können auch schon mal mit dem Kopf in der Kloschüssel enden. Doch Colin nimmt das alles hin. Dann fällt in der Schule ein Schuss. Unter Verdacht gerät ein Fiesling, der Colin schon oft hart zugesetzt hat. Aber das spielt keine Rolle für den 14-Jährigen. Er weiß, dass sein Peiniger unschuldig ist und das will er unbedingt beweisen. Denn Colin liebt Rätsel – genau wie sein großes Vorbild Sherlock Holmes.

Ein faszinierendes Buch, das einen Einblick in die Welt der Asperger-Autisten gibt, die schwer zu verstehen und nachzuvollziehen ist. Es ist humorvoll geschrieben mit zahlreichen Querverweisen auf Theorien unterschiedlicher Fachbereiche, so dass man am Ende nicht nur weiß, wer die Waffe in die Schule geschmuggelt hat, sondern auch, was das Gefangenendilemma ist und wann eine falsche Dichotomie entsteht.

„Der beste Tag meines Lebens“ von Ashley Edward Miller und Zack Stentz ist im Ravensburger Buchverlag erschienen, für Jugendliche ab 14 Jahren geeignet und kostet 7,99 Euro. ISBN 978-3-473-58455-0

Spurlos
Die Namen wechseln, das Aussehen ändert sich, der Wohnort ist ein anderer. Die 17-jährige Sissy, ihre elfjährige Schwester Teeny und deren Eltern sind im Zeugenschutzprogramm. Zum sechsten Mal haben Agenten die Familie Hals über Kopf aus ihrer Unterkunft geholt und in einen anderen Bundesstaat verfrachtet. Nun heißt Sissy Meg und ist zum ersten Mal in Louisiana. Sissy spürt, dass dieses Mal irgend etwas anders ist. Unter dem Druck droht ihre Familie allmählich zu zerbrechen. Ihre kleine Schwester zieht sich immer mehr zurück, die Mutter flüchtet sich in den Alkohol Meg nimmt sich vor, dieses Mal keine sozialen Kontakte mehr zu knüpfen und Freundschaften zu beginnen. Das ist gar nicht so einfach, denn gleich am ersten Tag begegnet sie Ethan, zu dem sich Meg immer mehr hingezogen fühlt und der sich von Megs schroffen Abweisungen nicht zurückhalten lässt, ihre Nähe zu suchen. Vor allem nimmt sich Meg vor, die Wahrheit herauszufinden um jeden Preis. Warum sind sie im Zeugenschutzprogramm? Wann wird das endlich beendet sein?

Ein spannender Thriller mit vielen Facetten, der vor allem die Probleme aufzeigt, die die ständig wechselnden Identitäten für die Familie mit sich bringen. Fortsetzung folgt.

„Spurlos“ von Ashley Elston ist im Verlag Mixtvision erschienen, für Jugendliche ab 14 Jahren geeignet und kostet 16,90 Euro. ISBN 978-3-944572-06-2

Quellen und Bildrechte:

  • Foto 1: Auszug aus Buchcover „Der beste Tag meines Lebens“, Ravensburger Buchverlag, Illustration: Carolin Liepins